Kapitel 1


Herr, mein Fels, meine Burg, mein Erretter, mein Gott, mein Hort, auf den ich traue, mein Schild und Horn meines Heils und mein Schutz!

(Psalm 18, 3)


Es ist der 10. April 1945. Ich bin im neunten Monat und der Tag meiner Niederkunft rückt immer näher. Noch immer ist laufend Fliegeralarm und wir, das sind meine Mutter und ich sowie meine Tante aus dem Rheinland mit ihrer kleinen sechsjährigen Tochter, sind mehr im Keller unseres Einfamilienhauses in Berlin-Spandau als im Erdgeschoß. Die Schlafräume im ersten Stock wurden in den letzten Wochen durch Luftangriffe so zerstört, dass wir sie nicht mehr benutzen können. Mein Vater musste sich bei seiner Firma Siemens zum Werks- bzw. Luftschutzeinsatz melden. Er ist noch immer nicht zurückgekommen. Mein Mann wurde an der unteren Weichsel verwundet. Auch er musste sich nach einem Aufruf des Standortkommandos aus dem Genesungsurlaub heraus in Berlin stellen.

Es ist der 15. April 1945, als es an der Haustür klingelt und meine Tante, eine Schwester meiner Mutter, und ihre Nachbarin vor der Tür stehen. Sie sehen furchtbar aus und fallen uns erschöpft in die Arme. Seit mehreren Tagen sind sie mit ihren Fahrrädern unterwegs und berichten, dass ihr Haus sowie die ganze Stadt Wriezen an der Oder in Trümmern liegt. Im allerletzten Moment konnte meine Tante noch den von einem Bauern erstandenen Schinken, den sie für mich besorgt hatte, auf den Gepäckträger schnallen und flüchten. Wir sind erschüttert, dass sie keine persönliche Habe mitgenommen hat, sondern nur den Schinken: ich soll mich damit für die Geburt stärken. Da sie selbst keine Kinder hat, bin ich auch immer ihr Kind und sie ist für mich eine zweite Mutter.

Nun sind wir im Haus zu fünf Frauen und meine kleine Cousine. Ich gehe nicht mehr in den großen Gemeinschafts-Luftschutzbunker. Er ist zwar nur fünf Minuten von uns entfernt, aber ich schaffe es mit meinem schweren Leib nicht mehr. Die Luftangriffe kommen pausenlos und ich würde Tag und Nacht dort sitzen.

Inzwischen hat sich meine Mutter bei der Hebamme erkundigt, ob sie zu der Niederkunft kommen würde. Natürlich, sagt sie, den ganzen Tag, aber nachts? Das wird nicht möglich sein.



Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn; er wird's wohl machen.

(Psalm 37, 5)


Es ist der 25. April, und es ist alles unheimlich ruhig. Da geht die Tür auf und unser Nachbar steht mit schlotternden Knien vor uns und stammelt immer wieder: "Es ist soweit - es ist soweit - sie sind da - die Russen!" Und schon rennt er wieder davon. Wir haben gerade Tee gemacht und sitzen alle in der Veranda, als ein gut aussehender russischer Offizier durch den Garten auf unser Haus zukommt. Wir sind alle entsetzt und haben fürchterliche Angst. Ich springe auf und biete ihm eine Tasse Tee an. Er nimmt sie dankend an und trinkt einige Schlückchen. Dann streicht er meiner kleinen Cousine über das Haar, stellt die Tasse auf den Tisch und geht mit einer Verbeugung wieder aus dem Haus. Wir sind alle sprachlos. Sind das die Barbaren, vor denen wir solche panische Angst haben? Wir atmen auf und warten weiter ab, was auf uns zukommt. Da waren ja die Polen vor einigen Tagen schlimmer. Sie stürzten in das Haus und nahmen alles mit, was ihnen gefiel und sie fassen konnten.



Der Gott Zebaoth ist mit uns, der Gott Jakobs ist unser Schutz.

(Psalm 46, 8)


Nach einer Weile kommen wieder zwei russische Soldaten mit Maschinenpistolen und fragen nach Männern und deutschen Soldaten. Wir verneinen, aber sie suchen alles ab. Als sie wieder aus dem Haus sind, stürzt meine Mutter zur Garderobe und nimmt den Ausgehsäbel meines Mannes vom Haken, den sie offensichtlich übersehen haben. Da schon wieder Soldaten vor der Tür stehen, läuft sie schnell nach oben in mein Schlafzimmer und wirft den Säbel hinter die Tapetentür. Die Soldaten suchen alles systematisch ab, ja sie machen sogar die Tapetentür auf und sehen hinein - meiner Mutter bleibt vor Schreck fast das Herz stehen. Als sie wieder herunterkommen und aus dem Haus gehen, holt sie den Säbel und vergräbt ihn schnell im Garten. Von diesem Schreck muss sie sich nun doch erholen, und als sie uns davon berichtet, wird es auch uns ganz schön flau im Magen. Was hätten die wohl mit uns gemacht?



Schaff uns Beistand in der Not; denn Menschenhilfe ist nichts nütze.

(Psalm 60, 13)


Die Nacht verläuft ohne Bombenangriffe ruhiger, und doch sitzen wir alle mit unseren Kleidern im Sessel und warten ab. Am nächsten Morgen kommen zwei junge russische Soldaten und durchsuchen wieder alles. Einer nimmt sich die Gitarre meines Vaters und der andere greift sich die Handharmonika; sie sitzen gemütlich auf unserer Liege und klimpern. Nachdem sie so eine ganze Weile gespielt haben, verschwinden sie mit den Instrumenten.

Am Nachmittag kommt ein Mongole. Er steht auf einmal mitten im Flur und fragt nach Stiefeln. Wir haben ihn überhaupt nicht gehört mit seinen dicken Gummisohlen. Auch er sucht alles ab und fragt immer wieder nach Stiefeln. Als er nichts findet, greift er sich einen Koffer und will damit verschwinden. Aber da kennt er meine Mutter nicht! Sie reißt ihm den Koffer aus der Hand und zeigt auf mich und meinen dicken Bauch und dass in dem Koffer die Wäsche für das Baby wäre. Bei soviel Protest verschwindet er schnell ohne Koffer. Wir wundern uns immer wieder, dass sie sich so gut mit uns verständigen können. Einige sprechen ganz gut deutsch.

Gegen Abend verrammeln wir die Türen und Fenster. Es sind inzwischen viele Soldaten unterwegs, die in die Häuser wollen. Wir haben in der Nachbarschaft ausgemacht, dass wir bei Bedrängnis von unseren Balkonen laut um Hilfe schreien. Wir werden uns dann gegenseitig zu Hilfe kommen. Aber auch diese Nacht ist verhältnismäßig ruhig. Zwar versucht jemand in das Haus zu kommen, gibt es aber doch wieder auf.

Am Morgen kommen wieder Soldaten und suchen Stiefel. Es ist uns allen völlig rätselhaft, warum. Ob sie die mit nach Hause nehmen wollen? Ich ruhe mich gerade im Keller aus, als ein Soldat herunterkommt. Mit der Pistole in der Hand sucht er Stiefel. "Wo Stiefel, wo Stiefel, ich finden Stiefel jetzt, ich mache alles kaputt!" Na, ich kann ruhig alles mit ansehen und verneinen, da ich wirklich keine Stiefel im Hause habe und ihm so auch keine geben kann. Wie groß aber ist mein Schreck, als meine Tante Mipa nach seinem Weggang nach unten kommt, sich bückt und unter einem von meinem Vater gebauten Gestell für unsere Koffer ihre gelben Stiefel hervorzieht! "Mensch Mipa (wir nannten sie so, weil ich als kleines Mädchen den Namen Lisbeth nicht aussprechen konnte), wie kannst du uns nur in solche Gefahr bringen!"

Aber auch sie kann vor Angst nichts weiter tun als sie schnell - wie inzwischen vieles andere schon - im Garten zu vergraben. Meine Ruhe ist dahin und ich krieche unter dem Zaun zu meiner nachbarlichen Freundin rüber. Die Story muss ich ihr erzählen. Als ich zurückgehe und unter den Zaun hindurch kriechen will, komme ich kaum wieder hoch und ein schlimmer Verdacht steigt in mir hoch - sollte es etwa soweit sein? Mein erster Gedanke ist: Es ist Samstag, der 28. April, und es ist spät am Abend! Also keine Hebamme - und während der Straßenkämpfe kommt sie überhaupt nicht. Um meine Frauen nicht zu beunruhigen, sage ich lieber nichts und lege mich auf ihre Anweisungen nach langer Zeit ausgezogen ins Bett. Ich soll mich ausruhen und einmal richtig schlafen. Sie wollen alle bei mir Wache halten.



Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er mir hilft mit seinem Angesicht.

(Psalm 42, 6)


In der Nacht, um ein Uhr, weckt mich meine Mutter, die auf meinem Bett sitzt und fragt mich, ob ich einen Alptraum habe oder ob es mir schlecht geht. Ich beruhige sie und sage: "Ich muss nur mal zum Klo." Das stimmt auch tatsächlich. Sie nimmt mich an der Hand, und als ich wieder im Bett liege, fragt sie mich nach einer Weile noch einmal, ob es mir wirklich gut gehe, da ich laufend ihre Hand drücke. Nun kann ich ihr nichts mehr vormachen und muss ihr sagen, dass es mit dem Kinderkriegen soweit ist.

Alle schreien auf und ich habe Mühe, sie zu beruhigen. Sie reden laufend auf mich ein, dass es sich bei ihnen stundenlang hinausgezögert hätte und ich es bestimmt noch bis zum Morgen zurückhalten kann. Meine Mutter lässt sich aber nicht beirren und zurückhalten. Sie nimmt sich ein weißes Laken als Zeichen von guter Absicht und geht zu einem Nachbar. Er ist Sanitäter und soll sie zu einer nahe liegenden Schule begleiten. Sie hatte gehört, dass dort verwundete russische Soldaten liegen. Dort wird auch bestimmt ein Arzt anwesend sein.

Unterwegs wird sie mit ihrem Begleiter angehalten und in ein Haus geschleppt. Es ist ein Russenquartier, und sie wird von den Soldaten mit hungrigen Augen empfangen. Als man sie auf ein Lager zwingen will, schreit sie und ein junger Offizier kommt herein, um nachzusehen, was los ist. Durch Zeichensprache gibt sie ihm zu verstehen, was sie will. Dass sie einen Arzt für ihre Tochter sucht. Er versteht sie und schreibt etwas auf einen Zettel, drückt ihr denselben in die Hand und gibt ihr zu verstehen, dass sie weiter zur Schule gehen kann. Dort ist ein deutscher Arzt. Man lässt sie nun passieren und sie wird auch tatsächlich zu einem deutschen Arzt geführt. Er war in Tempelhof tätig, wurde von dort mitgenommen und muss jetzt für die Soldaten zur Verfügung stehen. Er darf unter Vorweisung des Zettels mit meiner Mutter gehen, aber nur unter der Bedingung, dass er sich sofort wieder zurückmeldet, andernfalls würden sie uns zur Rechenschaft ziehen.



Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, so ihn fürchten.

(Psalm 103, 13)


Inzwischen warte ich unter Jammern und Klagen meiner Frauen und überlege, was zu tun ist. Ich muss sie nun doch ernstlich ermahnen, dass es gleich so weit ist und sie mir Hilfe leisten müssen. Mein Mann brachte mir vom Lazarett in Potsdam einen kompletten Wochenbettkoffer mit. Den sollen sie mir bitte holen, ihn öffnen und alles bereitlegen.

Schlimm ist es, dass wir keinen Strom haben und auch sonst kein Licht und alles mit einer Kerze beleuchten müssen. Es ist zwei Uhr und ich muss meine Tante bitten, doch endlich die Kerze hinzustellen, damit sie das Kind in Empfang nehmen kann. Es ist jetzt soweit und vom Zurückhalten kann nicht mehr die Rede sein. Aber sie rufen immer wieder: "Nein, nein, das dauert noch!" Da reißt mir aber doch die Geduld und ich schimpfe, sie sollen doch endlich einmal richtig hinsehen. Vor lauter Schreck streckt meine Tante die Arme aus und plumps! liegt ein Junge in ihren Händen. Als er im hohen Bogen über ihre Arme "Pipi" macht, muss ich laut lachen und sage: "Seht ihr, er musste ganz nötig und hatte keine Zeit mehr." Nun aber geht ihr Jammern erst recht los. "Was machen wir jetzt nur, was machen wir jetzt nur?" Da muss ich den Frauen und Müttern noch sagen, was zu tun ist. Wie gut war es doch, dass ich mit meinen 21 Jahren beim Roten Kreuz war und auch darin unterwiesen wurde. Ich binde die Nabelschnur ab, lege den Jungen schön warm in eine Decke, und wir wollen erst einmal alle in Ruhe abwarten, bis meine Mutter wieder zurückkommt.

Wir brauchen auch nicht mehr lange zu warten. Sie kommt mit dem Nachbarn und einem Arzt. Da steht sie nun mit hängenden Armen mitten im Raum, sieht auf das Kind, und die Tränen laufen unaufhaltsam über ihr Gesicht. Die Aufregung vorher und dass sie nun bei der Geburt nicht bei mir war, das war einfach zu viel. Der Arzt nimmt meine Mutter in seine Arme und tröstet sie, dass doch alles gut gegangen ist und es für ihn kaum noch etwas zu tun gibt. Aber da war ja noch die Nachgeburt zu holen, und der Nachbar in seiner Eigenschaft als Sanitäter wickelt meinen Leib in feste Binden. Als alles fertig ist, sehen sie alle in das blaue Himmelbettchen auf den kleinen Bernd. Solch ein schönes und gesundes Kind!