Kapitel 2
Auf Gott hoffe ich und fürchte mich nicht; was können mir die Menschen tun?
(Psalm 56, 12)
Der Sonntag ist ruhig, und wir hören nur noch vereinzelte Schüsse auf den Straßen und in der Ferne Kanonen und Flieger. In der Nacht versucht ein Soldat mit Gewalt in das Haus zu gelangen. Da es ruhiger ist als in den Nächten davor, haben sich meine Tanten auch einmal ins Bett gelegt. Meine Mutter verteidigt die Tür mit Stuhlbarrikaden und schickt beide Tanten nach oben. Sie sollen, wie besprochen, vom Balkon aus laut um Hilfe schreien. Sie stehen zwar oben im Hemd, die Hosen in einer Hand und die Strümpfe in der anderen, japsen aber nur wie ein Karpfen nach Luft und bekommen vor lauter Angst keinen Laut aus ihrem Mund. Nachdem ich rufe, wenn sie jetzt nicht endlich schreien, stehe ich auf und komme nach oben, bekommen sie solch einen Schreck, dass ein gurgelnder und unartikulierter Laut über ihre Lippen kommt; jetzt endlich haben sie Luft und ich höre sie beide laut um Hilfe rufen.
Ich glaube, bei den vielen Weiberstimmen bekommt selbst der Soldat einen Schreck. Er verlässt jedenfalls schnell unseren Garten und gibt alles weitere auf. Von nachbarschaftlicher Hilfe ist keine Spur zu sehen. Sie haben sich vor lauter Angst alle in ihre Häuser verkrochen.
Es wird dir kein Übel begegnen, und keine Plage wird zu deiner Hütte sich nahen. Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen.
(Psalm 91, 10 und 11)
Am nächsten Tag ziehen wieder viele Soldaten durch unsere Straße, und ein Russe kommt in unser Haus und verlangt "Urri, Urri". Da wir auch diese vergraben haben, können wir mit ruhigem Gewissen sagen, wir haben keine mehr. Er kommt auch in mein Zimmer hereingepoltert. Als er mich im Bett liegen sieht, werden seine Augen groß und größer. Ich zeige schnell auf das kleine Himmelbettchen; er schlägt mit zwei Finger den Vorhang zur Seite und guckt lange hinein, dreht sich dann leise um und geht auf Zehenspitzen wieder hinaus. Vielleicht hat auch er zu Hause kleine Kinder?
Wenn ich mich zu Bett lege, so denke ich an dich; wenn ich erwache, so rede ich von dir.
(Psalm 63, 7)
Meine Gedanken gehen die Tage zurück, und es geht mir durch den Kopf, dass wir bisher unwahrscheinliches Glück hatten. - Glück!? War das nicht alles Gottes wunderbare Führung und Schutz? Meine Geburt so unkompliziert, ohne jeglichen Blutverlust und ohne Schmerzen, ohne Angst und Zittern. Und dann die Geburt selbst - eine unbeschreibliche Freude. Ganz sicher hat auch der Schinken dazu beigetragen, den ich täglich, fast stündlich genossen habe. Das Kind war ja förmlich in einer Fettschicht gebettet.
Ich denke an meinen Mann. Wenn er doch das Kind sehen könnte, seinen Sonntagsjungen! Mein Vater hat auch noch nichts von sich hören lassen. Er war noch immer nicht von seiner Firma zurückgekommen.
Gelobt sei der Herr täglich. Gott legt uns eine Last auf; aber er hilft uns auch.
(Psalm 68, 20)
Auf den Straßen geht es wieder lebhafter zu, und wir hören immer vereinzelte Schüsse. Ab und zu haben wir wieder Strom und hören aus dem Radio die verwirrendsten Durchsagen. Wir sollen durchhalten. Es kämen neue Truppen aus dem Westen. Auch sollen die Soldaten ihre Bunker weiterhin verteidigen. Wie zum Hohn singt ein bekannter Sänger "Freunde, das Leben ist lebenswert!". Da schalten wir ab. Wir haben genug.
Meine Mutter berichtet mir laufend, was um uns herum geschieht. Es ist der 2. Mai, und die Unruhe auf den Straßen nimmt immer mehr zu. Da kommt sie hereingestürzt und berichtet aufgeregt, dass tatsächlich viele deutsche Truppen über den Brunsbütteler Damm ziehen. Doch nach einer Weile kommt sie ganz enttäuscht zu mir und meint, dass diese Truppen nicht hereinkommen, sondern Berlin verlassen.
Inzwischen hat sich ein russischer Scharfschütze in unserem Garten versteckt und schießt auf die abziehenden Soldaten. Sie ist ganz verzweifelt und hält vorsichtig nach einem deutschen Soldaten Ausschau, den sie auf den Scharfschützen aufmerksam machen möchte. Da, endlich kann sie zwei Soldaten zu sich heran winken und sie können den Russen verjagen. Wir sind aber alle verwundert, dass einer von ihnen ganz selbstverständlich zu mir ins Zimmer kommt und sich offensichtlich bei uns auskennt. Er steht vor meinem Bett und sieht schlimm aus. Rauchgeschwärzt, die Kleidung angesengt und zerrissen - sie kämpften zum Teil in den U-Bahnschächten, wo auch Flammenwerfer zum Einsatz kamen. Da schreit meine Tante auf und ruft: "Das ist ja unser Will!"
Tatsächlich, es ist mein Mann, und wir haben ihn nicht erkannt. Ich fange vor Aufregung an zu heulen und muss ihn immer wieder entsetzt ansehen. Wir berichten ihm, wie es uns inzwischen ergangen war, und als er seinen Sohn in der Wiege liegen sieht, laufen auch ihm die Tränen herunter. Leider hat er nicht viel Zeit.
Die deutschen Truppen versuchen, sich nach Westen abzusetzen; sie wollen den von den Russen gezogenen Ring um Berlin durchbrechen. Der Russe hat den größten Teil Berlins eingenommen. Hitler hat Selbstmord begangen. Wir können vor lauter Aufregung und Schreck kaum vernünftig überlegen und wollen unbedingt mit den Soldaten Berlin verlassen. Ich springe aus dem Bett und ziehe mein greifbares Umstandskleid an, streife schnell meinen rotbraunen Teddymantel über und packe unser Kind in ein Kopfkissen ein. Meine Mutter und meine Tante Mipa holen meine Koffer, und wir drei Frauen ziehen mit den beiden Männern mit. Der Bursche meines Mannes nimmt mir den Babykoffer ab und wir gehen los. Es ist sehr nebelig und wir schleichen im Gänsemarsch am Bullengraben entlang in Richtung Staaken. Dort sammeln sich alle, und auch wir reihen uns bei ihnen mit ein.
Herr, auf dich traue ich, lass mich nimmermehr zuschanden werden; errette mich durch deine Gerechtigkeit!
(Psalm 31, 1)
Langsam geht es vorwärts, als ein Funkwagen, der neben uns herfährt, anhält und uns der Fahrer zuruft, ich könnte doch mit dem Kind in den Wagen einsteigen. Neben ihm wäre noch Platz.
Inzwischen hören wir, dass die Truppen bei Nauen durchbrechen wollen. Mit meiner Mutter und Mipa sprechen wir ab, dass wir uns in Nauen treffen wollen. Die Koffer können wir auch schnell in den Wagen verstauen, und meine Lieben laufen unbeschwert von Gepäck neben dem Wagen. Nun setzt sich der Wagen in Bewegung und der Funker kann gerade noch meinem Mann zurufen: "Herr Oberleutnant, springen Sie schnell auf, wir quetschen uns zusammen, dann sind Sie bei Ihrer Frau."
Wir fahren in rasendem Tempo über Stock und Stein, als nach etwa zwanzig Minuten der Wagen einen Volltreffer in den Motor bekommt. Wir stürzen aus dem Wagen und müssen auf dem Boden Deckung suchen. Mein Mann nimmt mir das Kind ab und wir kriechen über die Erde einem Erdloch zu. Nun sind wir erst einmal in Deckung. Aber was für ein Grauen um uns herum! Es liegen überall Tote und Schwerverletzte und wir können nicht einmal helfen. Wir haben keine Koffer mehr, nichts zu essen, nichts zu trinken. Mein Gott, wo sind jetzt meine Mutter und meine Tante? Und dann diese entsetzlichen Schreie nach Hilfe und Sanitäter...
Denn so er spricht, so geschieht's, so er gebeut, so stehet's da.
(Psalm 33, 9)
Viele Monate später erfuhren wir von meiner Mutter, dass sie und meine Tante nach etwa hundert Metern von Russen gefangen genommen worden waren und zum Abtransport nach Russland in einer Schule in Staaken gesammelt wurden. Sie weinten schrecklich, zumal sie annehmen mussten, dass wir irgendwo hinter Staaken auf dem früheren Übungsgelände der Wehrmacht erschossen wurden. Als nach einiger Zeit die Tür aufging und ein junger Soldat den Raum betrat, musste ihm wohl meine Mutter aufgefallen sein. Er geht zu seinem Vorgesetzten und spricht auf ihn ein. Sie kommen beide auf meine Mutter und meine Tante zu und schicken sie nach Hause. Was war geschehen?
Da erkennt meine Mutter den jungen Soldaten wieder. Es war einer der Musiker, die einige Tage zuvor auf den Instrumenten meines Vaters gespielt hatten und sie mitnahmen! Der Soldat hatte meine Mutter wiedererkannt, wußte, wo sie wohnte und machte dies seinem Vorgesetzten klar. Die Dankbarkeit war groß, und sie rannten, so schnell sie konnten, nach Hause zurück.
Aber was für eine schlimme Nachricht wartete auf sie. Man hatte inzwischen meinen Vater, nur fünf Minuten von unserem Hause entfernt, von einem Scharfschützen erschossen aufgefunden. War es sogar der Scharfschütze aus unserem Garten? Man begrub meinen Vater in unserem Garten, von wo aus er erst viele Wochen später mit vielen anderen in einem Massengrab auf dem Spandauer Friedhof beerdigt wurde. Meine Tanten mussten ständig aufpassen, dass meine Mutter sich nichts antat. Kein Mann mehr, das Haus von Bomben in vielen Teilen zerstört und ihr einziges Kind mit Mann und Baby aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr am Leben!
Ergreife Schild und Waffen und mache dich auf mir zu helfen! Zücke den Spieß und schütze mich wider meine Verfolger! Sprich zu meiner Seele: Ich bin deine Hilfe!
(Psalm 35, 2 und 3)
In dem Erdbunker wird es immer unerträglicher, zumal sich die Russen auf diesen Bunker einschießen. Ich kann die Todesschreie, das Stöhnen und Röcheln der Schwerverwundeten nicht mehr ertragen, es ist entsetzlich. Niemand ist in der Lage zu helfen. Ich zerre meinen Mann mit dem Kind aus dem Loch und wir kriechen weiter. Als wir uns nach einer lauten Detonation umdrehen, ist der Bunker nicht mehr vorhanden. Er hat einen Volltreffer bekommen.
Aber nun kommen die Tiefflieger zu uns heruntergestürzt und beschießen uns aus ihren Bordkanonen. Was für eine gute Zielscheibe muss ich doch mit meinem auffälligen Mantel für sie sein! Ab und zu kann ich als Deckung ein Baumskelett umarmen; sie schießen, was das Zeug hält, und ich sehe die zersplitterten Äste und den Dreck um mich herumfliegen. Mein Mann ruft und schreit mir immer wieder etwas zu, aber bei dem Höllenlärm kann ich ihn nicht verstehen. Er muss inzwischen mit ansehen, wie sich ein russischer Panzer auf mich einschießt. Wohl laufe ich um die Krater herum und nehme auch den aufspritzenden Dreck wahr, aber ich konzentriere mich nur auf die Tiefflieger, die immer wieder laufend im Wechsel heruntergeschossen kommen. Wir sehen in einiger Entfernung eine Scheunenruine stehen. Dorthin versuchen wir zu kommen, um Deckung zu finden und um etwas zu verschnaufen. Auch ist ein Kiefernwald in der Nähe, dort können wir uns vielleicht etwas ausruhen.
Als wir endlich am Rand der Scheune stehen, setzt der Russe seine Stalinorgel ein. Ich habe das Gefühl, dass meine Ohren von dem enormen Detonationsdruck platzen. Will schreit mir ins Ohr: "Reiß den Mund weit auf!" Wir müssen ganz schnell von dort weg in Richtung Wald. Da fliegt auch schon der Rest der Scheune in die Luft und um uns entstehen riesige Krater. Wir rennen und rennen, und als wir mit unseren Kräften am Ende sind und endlich den Waldrand erreichen, kommen noch einmal beide Tiefflieger heruntergeschossen und ihre Salven krachen uns um die Ohren. Die Baumäste fliegen nur so um uns herum. Wir sehen uns beide an und können es einfach nicht begreifen, dass wir aus diesem Inferno lebend herausgekommen sind. Doch nun sind wir in Deckung und können langsam weitergehen.
Herr, mein Gott, groß sind deine Wunder und deine Gedanken, die du an uns beweisest. Dir ist nichts gleich.
(Psalm 40, 6)
Plötzlich sehen wir beide vor uns einen russischen Soldaten. Er steht in geringer Entfernung mit dem Rücken zu uns und hält eine schussbereite Maschinenpistole in seinen Händen. Mein Mann zieht auch seine Pistole und denkt: "Er oder wir..." Aber wie viele andere Russen sind in der Nähe? Schritt für Schritt gehen wir ganz leise zurück und beten, dass das Baby nicht anfängt zu weinen. Mir klappern vor Angst die Zähne und ich bekomme einen Schüttelfrost. Als wir endlich außer Sicht sind, setzen wir uns erschöpft auf den Boden.
Wir überlegen, dass es jetzt am Tage keinen Zweck hat, weiterzugehen. Wir werden uns nach einer guten Deckung umsehen und den Tag abwarten, um dann in der Nacht weiterzugehen. Wir liegen in einer kleinen Schlucht, und es kommen nach und nach immer mehr deutsche Soldaten und Offiziere; auch sie sind dem mörderischen Feuer entkommen. Im dichten Nebel gehen wir gegen Abend im Gänsemarsch weiter. Wir sind wohl an die hundert Menschen. Da wir kaum etwas sehen können, weder vor noch neben uns, haben wir alle große Sorge und Angst, dass der Feind plötzlich vor uns stehen könne. Wir kommen an einem verlassenen Munitionslager vorbei, das gespenstisch daliegt.
Dann erreichen wir das Dorf Fahrland und gehen von dort weiter bis zum Fahrländer See. Dort beratschlagen alle. Sie entscheiden, sich geschlossen durch die russischen Linien durchzukämpfen. Ich wehre mich entschieden dagegen. Die Soldaten sind kein ordentlicher Kampfverband und es fehlt an der notwendigen Ausrüstung. Außerdem sind in der Ferne ständig Schreie deutscher Soldaten zu hören, die ebenfalls einen Durchbruch versuchen.
Endlich kann ich meinen Mann dazu überreden, mit mir zurück in das Dorf zu gehen. Wenn schon durch die feindlichen Linien nach Westen, dann lieber allein. Da schließt sich uns noch ein Luftwaffenoffizier mit seiner Freundin an. Wir gehen zurück nach Fahrland. In einem verlassenen Haus kann ich mit dem Kind unterkommen, und mein Mann sucht mit den beiden anderen Schutz in der zum Hof gehörenden Scheune; sie verstecken sich ganz oben im Heu. Das Scheunentor verschließe ich von außen mit einem Querbalken.
In der morgendlichen Dämmerung wird die Scheune vom Russen in Brand geschossen. Sie steht sofort in hellen Flammen. Durch das mit dem Querbalken verschlossene Haupttor konnte niemand heraus. In der Wand zu einer Gerätekammer war ein dreieckiges Loch. Dieses bot für die Eingeschlossenen die einzige Möglichkeit, herauszukommen. Das Feuer hatte durch das Heu und Stroh natürlich Nahrung genug und griff wahnsinnig schnell um sich. Die drei eingeschlossenen Personen gerieten in Panik. Alle Habseligkeiten zurücklassend erkannten sie, dass nur die Gerätekammer eine Rettungsmöglichkeit bot. Mein Mann griff sich das Mädchen, drückte deren Freund zur Seite und schob es durch das Loch nach draußen. Dann nahm er den Luftwaffenmann und presste ihn ebenfalls durch das Loch, um sich dann auch selbst hindurchzuzwängen. Fast schon zu spät, denn Kleidung und Haare waren bereits angesengt, und er bekam kaum noch Luft. Es ging alles so wahnsinnig schnell, dass ich das Feuer viel zu spät bemerkte. Wir fallen uns dann weinend in die Arme und sind dankbar, dass alles gut gegangen war und wir leben.
Merke auf meine Klage, denn ich werde sehr geplagt; errette mich von meinen Verfolgern, denn sie sind mir zu mächtig.
(Psalm 142, 7)
Da die Russen ins Dorf kommen, müssen wir schnell weiter, zumal die Männer noch in ihren Offiziersuniformen sind. Irgendwohin, wo uns die Russen nicht in die Hand bekommen und die Männer eventuell ihre Uniformen gegen Zivilanzüge tauschen können.
Da kommt die Eigentümerin des Hofes und fleht mich an, im Notfall auf jeden Fall wieder in ihr Haus zurückzukommen. In ihrer Küche will sie Streichhölzer und Holz für mich bereitlegen, damit ich mich aufwärmen kann. Es ist noch immer grausam kalt. Auch will sie mir einen Topf mit Milch hinstellen. Sie selbst wird mit anderen Frauen des Dorfes im Keller der Molkerei übernachten. Sie haben Angst vor Vergewaltigungen, zumal sich schon viele Frauen des Dorfes das Leben genommen haben, weil sie vergewaltigt wurden.