Kapitel 3


Der Herr behütet dich, der Herr ist dein Schatten über deiner rechten Hand.

(Psalm 121, 5)


Wir gehen schnell in Richtung Fahrländer See und suchen irgendwo Deckung. Wieder wollen wir den Tag abwarten und in der Nacht weiterziehen. Auf der Halbinsel des Sees finden wir ein Erdloch, in das wir hineinkriechen können. Hier haben wir Schutz vor dem Nieselregen und hoffen, dass der Russe diese Landzunge nicht kontrolliert. Später hören wir, dass russische Soldaten diese Landzunge laufend nach deutschen Soldaten abgesucht haben. In dem Loch kann ich das Kind wieder notdürftig versorgen, was sehr mühsam und umständlich ist.

Die Männer überlegen mittlerweile fieberhaft, wie sie aus ihren Uniformen kommen. Mit diesen dürfen wir auf keinen Fall mehr über die Straßen, da der Russe inzwischen alles eingenommen hat. Es kämpfen nur noch vereinzelte Gruppen, die genau wie wir dem Kampf entronnen waren und sich nun nach Westen absetzen wollen. Wir schrecken bei jedem Geräusch zusammen und haben Angst, entdeckt zu werden. Schemenhaft sehen wir Panzer, Kettenfahrzeuge und Soldaten über die Straße ziehen.



Denn der Feind verfolgt meine Seele und schlägt mein Leben zu Boden; er legt mich ins Finstere wie die, so längst tot sind.

(Psalm 143, 3)


Beide Männer erkunden vorsichtig unsere Umgebung und stoßen dabei auf ein Boot, welches in geringer Entfernung von uns auf dem Wasser liegt. Durch vieles Bitten und Betteln darf ich zu ihnen kommen und dort die Nacht verbringen. Eventuell darf ich auch mit dem Kind mit ihnen fahren; sie wollen versuchen, mit dem Boot weiter zu kommen. Es ist ein junges Ehepaar. Will verabschiedet sich von mir. Er wird versuchen, Zivilkleidung zu bekommen, und wir verabreden, falls er nicht zum Boot zurückkommt, uns im Dorf Fahrland auf dem bekannten Hof wieder zu treffen.

Nun fängt der uns begleitende Offizier einen widerlichen Handel mit dem Besitzer des Bootes an. Er will ihnen seinen Ledermantel geben, wenn sie mich mit dem Kind aus dem Boot entlassen. Er möchte unbedingt mit seinem Mädchen mitfahren. Bei solcher Gemeinheit und Rücksichtslosigkeit leide ich entsetzlich, zumal ich merke, dass es meinem Kind nicht gut geht.



Der Hölle Bande umfingen mich, und des Todes Stricke überwältigten mich.

(Psalm 18, 6)


Von der Straße her hören wir noch immer Panzer und Kettenfahrzeuge vorüber rollen, und auf dem Wasser sind die Geräusche noch unheimlicher. Als das Kind unruhig wird und leise wimmert und röchelt, wollen sie mich unbedingt loswerden. Ich soll sie verlassen. Das Kind würde sie noch verraten.

Ich bin fassungslos über so viel Brutalität. Es ist Sonntag, drei Uhr nachts. Genau vor einer Woche war die Geburt, und fast auf die Stunde schläft mein Kind in meinen Armen ein. Ein kleines, hellrotes Rinnsal läuft aus seinem Mündchen. Seine kleine Lunge war offensichtlich durch den Druck der Detonationen beim Beschuss durch die Stalinorgel geplatzt. Ich sage ihnen, dass ich aus dem Boot möchte. Das Leben hat für mich keinen Sinn mehr, das Kind wäre gestorben. Nun brauchen sie mich auch nicht mehr mitzunehmen.



Denn meine Seele ist voll Jammers, und mein Leben ist nahe am Tode.

(Psalm 88, 4)


Ich stehe mit dem toten Kind auf einem Steg am Wasser, und es will mich in die dunkle Tiefe ziehen. Ich bin allein. Wo ist mein Mann, wo sind meine Mutter und mein Vater? Wäre es nicht endlich ruhig, wenn ich dort hineingleite? Ja, ich will, ich möchte nicht mehr. Aber es hält mich etwas zurück, ich sehe meinen Mann vor mir. Er wartet auf mich. Ich gehe weiter und schreie und schreie in den Nebel hinein, dass ich nicht mehr kann. Ich klage meinen Vater im Himmel an. Warum?!

Plötzlich taucht ein deutscher Soldat aus dem Nebel auf und steht vor mir. Ich falle vor ihm auf die Knie und bettle und flehe ihn an, mich zu erschießen. Er sagt: "Ich habe keine Waffe, gehen Sie ins Dorf zurück. Ihr Mann kommt bestimmt nach dort." Ich weine noch immer, bis ich merke, dass er verschwunden ist, vom Nebel verschluckt.



Da mir Angst war, rief ich den Herrn an und schrie zu meinem Gott; da erhörte er meine Stimme von seinem Tempel und mein Schreien kam vor ihn zu seinen Ohren.

(Psalm 18, 7)


Ich bin so müde vom Seufzen; ich schwemme mein Bett die ganze Nacht und netze mit meinen Tränen mein Lager.

(Psalm 6, 7)


Verzweifelt und wimmernd gehe ich mit dem toten Kind weiter, bis ich wieder ins Dorf finde. Auch das Haus finde ich in der Dunkelheit wieder und gehe in die Küche.

Nach einer Weile höre ich russische Soldaten nach Frauen rufen. Ich höre sie mit ihren schweren Stiefeln vorüber poltern und zittere vor Angst. Ich erleide Höllenqualen. In dem großen Küchenherd mache ich mit dem Holz, das die Bäuerin hingelegt hatte, Feuer und lege einen großen Waschdeckel auf die Feuerstelle. Um die linke Hand wickele ich mir eine Windel von dem Kind und lege mir ein großes Messer daneben. Ich warte und höre, wie sie in das Haus kommen. Sie reißen vorn die Türen auf und trampeln die Treppe hinauf nach oben, torkeln wieder herunter - mein Herz bleibt mir fast stehen. Dann gehen sie wieder hinaus. Sehen sie nicht die Tür, die hinter der Treppe zur Küche führt? Mit dem glühenden Topfdeckel werde ich mich verteidigen. Ich werde mich nicht von ihnen anfassen lassen.

Als ich sie aber noch mehrere Male höre, bin ich völlig fertig und mit meinen Nerven am Ende. Vor mir mein totes Kind, vor der Tür die suchenden Russen und aus dem Dorf das ständige Heulen der Hunde. Gegen Morgen wird es ruhiger und ich höre auch keine Soldaten mehr herumlaufen. Wie war es nur möglich, dass sie mich nicht gefunden haben? Stand ein Wächter vor meiner Tür?



Der Herr behüte dich vor allem Übel, er behüte deine Seele.

(Psalm 121, 7)


Mittags gegen zwölf Uhr geht die Tür auf und mein Mann kommt, umgezogen in Zivil, zur Tür herein. Wir fallen uns in die Arme und weinen uns aus. Wir gehen zum Pfarrer des Dorfes und bitten ihn, das Kind zu bestatten. Er sagt zu und bestellt uns in zwei Stunden zu sich. Inzwischen hat er neben der Kirche ein Loch gegraben und eine Kiste besorgt. Dort hinein legen wir unser Kind und der Pfarrer spricht tröstende Worte zu uns.



Herr, Gott Zebaoth, tröste uns; lass dein Antlitz leuchten, so genesen wir.

(Psalm 80, 20)


Als der Pfarrer das Kind in die Erde legt, fängt neben uns die Orgel mit allen gezogenen Registern an zu spielen. Dem Pfarrer laufen die Tränen herunter, und etwas später erzählt er uns den Grund. Russische Soldaten hatten die Orgel beschädigt. Der Organist hatte, ohne von uns zu wissen, den Schaden behoben und in diesem Augenblick versucht, sie mit Hilfe einer Batterie wieder in Gang zu bringen.

Der Pfarrer bringt uns zu der Hebamme des Dorfes. Sie versorgt mich und bindet mir die Brust fest und hoch, damit ich in den nächsten Tagen keine Brustentzündung bekomme. Wir bekommen von den Frauen des Dorfes zu essen; nach Tagen die erste Mahlzeit. Danach streifen wir uns weiße Binden um den Arm als Zeichen dafür, dass wir Flüchtlinge sind und ziehen dann weiter nach Westen, in Richtung der Heimat meines Mannes. Wir wollen nach Westfalen.



Wirf dein Anliegen auf den Herrn; der wird dich versorgen und wird den Gerechten nicht ewiglich in Unruhe lassen.

(Psalm 55, 23)


Wir dürfen nur über die Autobahn oder auf großen Autostraßen laufen, sonst ist die Gefahr zu groß, festgenommen und erschossen zu werden. Durch die jetzt eintretende Hitze wird es fast unerträglich, auf dem heißen Asphalt zu gehen. Meine Schuhe, von der Nässe der vorangegangenen Tage noch feucht, ziehen sich jetzt durch die Wärme zusammen und werden mit jedem Schritt enger. Als wir in Marquardt an Wochenendhäusern vorbeikommen, finden wir in einem verlassenen Häuschen Unterschlupf. Dort fallen wir nach dem Fußmarsch wie tot in die vorhandenen Betten.

Am frühen Morgen springen wir beide entsetzt aus den Betten - sie waren völlig verlaust! Nachdem wir alles an uns gesäubert haben, verlassen wir fluchtartig unsere Bleibe. Wir laufen weiter und weiter, wobei mir oft die Tränen vor Schmerz herunterlaufen. Es sind körperliche Schmerzen, und nun auch noch die Füße. Sie bestehen jetzt nur noch aus rohem Fleisch. Ich muss meine Schuhe oft ausziehen und mir ab und zu Linderung verschaffen. Zum Glück fand ich in dem verlassenen Haus ein paar Strümpfe, die ich mir anziehen konnte. Wir laufen Kilometer um Kilometer. Es ist heiß, und wir sehen kein Haus, wo wir etwas trinken können. Ich kann nicht mehr, und meine Zunge klebt von der Trockenheit am Gaumen.



Und meine Seele ist sehr erschrocken. Ach du, Herr, wie lange!

(Psalm 6, 4)


Über dem heißen Asphalt flimmert die Hitze. Wir sehen vor unseren Augen Wasser - es ist aber leider nur immer wieder ein Trugbild, eine Fata Morgana. Wir schleppen uns dahin und haben nur den einen Wunsch nach einem Schluck Wasser und Ruhe.

Endlich kommen wir in die Nähe eines größeren Ortes, es ist Alt-Töplitz, direkt an der Autobahn. Ich falle ins Gras, und Will geht durch einen Garten auf ein Haus zu. Nach langem Warten kommt endlich jemand aus dem Haus. Als er hört, was Will für einen Wunsch hat, wird ihm das Wasser verweigert. Wir sitzen beide an der Straße und können die Welt nicht mehr verstehen. Können Menschen so grausam sein? Ja, aber es ist für uns unfassbar.



Der Herr ist nahe bei denen, die zerbrochenen Herzens sind, und hilft denen, die ein zerschlagenes Gemüt haben.

(Psalm 34,19)


Nach einiger Zeit steht ein Mann in Uniform vor uns, betrachtet uns eingehend und fragt, ob er uns helfen kann. Er ist ein Lette und wurde von den Russen als Kommissar für diesen Ort eingesetzt. Nachdem mein Mann ihm kurz berichtet, nimmt er mich bei der Hand und wir gehen gemeinsam in das Dorf. Dort gibt er uns eine Bescheinigung für Verpflegung und eine Unterkunft.

Es ist eine Turnhalle, in der bereits mehrere Flüchtlinge lagern. Nachdem wir nun zu trinken bekommen, falle ich ohnmächtig in das aufgeschichtete Strohlager und sinke in einen tiefen Schlaf. Am anderen Tag verarzten sie meine wunden Füße. Dabei lernen wir einen Mann aus Dessau und seine jugoslawische Freundin kennen. Sie sind beide sehr hilfsbereit, und wir beschließen, in drei Tagen, wenn es mir etwas besser geht, gemeinsam weiterzugehen.



Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen.

(Psalm 91, 11)


Wir sind eine ganze Weile wieder Kilometer um Kilometer gelaufen und können uns an einem kleinen Bach an der Autobahn ausruhen. Ich ziehe meine Schuhe aus, um die Füße im Wasser zu kühlen. Nun haben sich auch noch die Nägel der großen Zehen gelöst. Jeder Schritt wird zur Qual. Da kommt ein großer Treck russischer Soldaten, und der führende Offizier, ein Major, setzt sich neben mich.

Mir schlägt das Herz bis zum Halse. Mit unserer jugoslawischen Freundin kann er sich ganz gut verständigen. Sie erzählt ihm, wie schlecht es mir geht. Da gibt er uns sogar Lebensmittel, und danach zieht die Truppe weiter. Gegen Abend können wir bei hilfsbereiten Leuten in einer Scheune übernachten. Die Männer im Dorf haben wenig zu befürchten, aber wir Frauen müssen uns tief unter Heu und Stroh oben in der Scheune verstecken. Die russischen Soldaten suchen laufend nach Mädchen und Frauen.

Am anderen Morgen sind wir dankbar, dass sie uns nicht gefunden haben und machen uns wieder auf die Reise. Gegen Mittag fallen wir ermattet an einem Waldrand nieder und ruhen uns aus. Da kommt ein russischer Offizier auf einem Fahrrad vorbei. Als er uns sieht, steigt er ab und setzt sich zu uns. Unsere Begleiterin kann sich wieder einigermaßen mit ihm verständigen. Er bedeutet ihr, dass er mit mir in den Wald gehen will. Sie flüstert uns zu, wir sollen auf einen Wink von ihr aufspringen und uns laut und fröhlich von ihm verabschieden. Als wir das tun, bleibt er verdutzt sitzen. Es ist ihm wohl doch zu dumm, hinterherzufahren.

Nach einem größeren Abstand von ihm fallen wir uns in die Arme und sind dankbar, dass es ein gutes Ende genommen hatte. Sie erzählte uns hernach, dass er ihr deutlich sagte, wir könnten doch nichts dagegen tun, wenn er mich mitnehmen will.