Kapitel 4


Unterweise mich den Weg deiner Befehle, so will ich reden von deinen Wundern.

(Psalm 119, 27)



Endlich kommen wir nach Lutherstadt Wittenberg und müssen dort hören, dass nicht die Elbe, sondern die Mulde die Grenze zur amerikanisch besetzten Zone ist. Überall herrscht ein furchtbares Durcheinander. An der Elbbrücke nehmen russische Truppen alle Polen, Russen und andere aus den Ostblockstaaten fest, die vom Westen kommen. Frauen und Kinder werden von ihren Männern getrennt. Alle gehamsterten Gegenstände wie Kleidung, Lebensmittel und so weiter werden auf einen Haufen geworfen und die Menschen in Gruppen zusammengestellt. Ein Weinen und Wehklagen um uns her! Alle sollen nach Russland abtransportiert werden. Wir sind froh und dankbar, dass wir wieder in einer Turnhalle Unterkunft finden. Leider müssen wir uns von unseren beiden Freunden trennen. Sie wollen weiter nach Dessau, dem Heimatort des Thüringers.

Wir müssen uns den Raum in der Turnhalle mit zwanzig Holländern und zwei Belgiern teilen. Sie sind alle auf Umwegen von Berlin gekommen und wollen in ihre Heimat zurück. Ein Belgier drückt mir verstohlen 200 RM in die Hand, als er hört, dass wir kein Bargeld besitzen. Er freut sich, dass er uns damit helfen kann und meint, dass er in seiner Heimat wohl kaum etwas mit deutschem Geld anfangen kann. Die Turnhalle steht an einem großen, wunderschönen Park, und doch finden wir vom Abend bis zum Morgen kaum Ruhe, da ununterbrochen unzählige Nachtigallen ihren Gesang anstimmen. Sie singen so laut, dass unsere anfängliche Begeisterung schnell nachlässt, denn es ist unmöglich, zu schlafen.

Wir haben uns mit den Holländern gut angefreundet. Zwei von ihnen, Bob und Jan, nehmen Will mit zum Bürgermeister der Stadt. Sie bürgen für uns auf den Namen Willem van Weert und Frau Ursula van Weert aus Groningen, und er bekommt tatsächlich ein Ausweispapier ausgestellt. Unsere eigenen Papiere liegen auf dem Grunde des Fahrländer Sees. Aus Sicherheitsgründen mussten wir alles versenken und vernichten.

Die beiden Holländer wollen versuchen, uns mit nach Holland zu nehmen. Angeblich hätten die Russen für Ausländer aus dem Westen einen Transport bereitgestellt. Doch uns allen erscheint das sehr riskant. Niemand traut den Russen. Wir wollen doch lieber versuchen, irgendwo über die Mulde zu kommen.



Sie laufen hin und her um Speise und murren, wenn sie nicht satt werden. Ich aber will von deiner Macht singen und des Morgens rühmen deine Güte; denn du bist mir Schutz und Zuflucht in meiner Not.

(Psalm 59, 16 und 17)


Zwei Tage später gehen wir alle nach Apollensdorf. Dort ist ein leeres Arbeitsdienstlager und wir können gut unterkommen. Wir schlafen in einem Raum mit zehn zweistöckigen Betten. Mit Bob, Jan und Pitt sind wir jetzt viel zusammen. Alle anderen gehen ihre eigenen Wege. Jeder versucht, etwas Essbares zu ergattern. Wer aber etwas mitgebracht hat, teilt es nicht. Soviel Egoismus haben wir noch nicht erlebt. Jeder ist auf jeden neidisch und eifersüchtig.

Zum Glück bekamen wir etwas Fett, Salz und Zucker zugeteilt und konnten aus der Wittenberger Turnhalle eine große Ration Bratlingspulver mitnehmen. Es waren davon größere Mengen von der Wehrmacht eingelagert worden. Das Bratlingspulver bestand aus Hafer-, Gersten- und Roggenflocken. Damit haben wir uns fast 14 Tage ernährt. Wir kochten davon Suppen und backten uns auf Marmeladeneimerdeckel Fladen und Brot. Wir wurden satt und es schmeckte uns köstlich.

Als Pitt eines Tages mit Will die Gegend auskundschaftet, läuft ihnen am Elbufer ein Kaninchen über den Weg. Pitt bückt sich, nimmt einen vor ihm liegenden Knüppel, wirft und trifft. Strahlend bringt er das Kaninchen. Das Fell wird abgezogen, das Kaninchen ausgenommen und anschließend von mir auf dem Eimerdeckel zubereitet. Eine Köstlichkeit, endlich wieder einmal etwas Fleisch! Wir schwelgten. Von diesem Tage an legte Pitt Schlingen und wir hatten regelmäßig ein Fleischgericht, das ich mit etwas Salz auf dem Eimerdeckel zubereitete.

Im Nebenraum hat sich ein litauischer Flüchtling niedergelassen. Er will lieber allein sein. Er ist sehr pingelig und sauber. Als aber ein neuer Gast in seinem Raum geschlafen hatte, überraschte ich ihn morgens bei einer sonderbaren Tätigkeit: er drückte auf dem Fensterbrett Läuse tot. Mir wird ganz schlecht und nach einer Weile fragt er mich, ob es uns wohl recht ist, dass auch er in unserem Raum schlafen darf. Da wir alle sowieso mit unserer Kleidung auf den Betten liegen, macht es uns nichts aus, wenn noch jemand hinzukommt. Mit ihm haben wir uns besonders gut angefreundet.

Als eines Tages plötzlich ein Russe zu uns hereinkommt - die anderen waren alle ausgegangen, um Essbares zu suchen - forderte er Emil auf, aus dem Raum zu gehen. Emil aber war der russischen Sprache mächtig. Er schimpfte den Soldaten aus und sagte ihm, was wohl seine Mutter zu seinem Verhalten sagen würde. Der Soldat verstand ihn und ging verlegen aus dem Raum. Wie gut, dass Emil bei uns war!

Groß ist mein Arger, als mir an einem Tage meine einzigen Strümpfe, die ich gewaschen und zum Trocknen aufgehängt hatte, gestohlen wurden. Nun muss ich wieder in den verschrumpelten Schuhen mit nackten Füßen laufen. Abends sitzen wir mit den Holländern zusammen und singen. Ich schneide von den gehamsterten Machorkastrünken kleine Portionen für Pfeife und Zigaretten, die wir mit Zeitungspapier mundgerecht drehten. Es schmeckte scheußlich und spritzte vorn wie ein Feuerwerkskörper auseinander. Aber es qualmte, und das war für die Männer genug.



Und er leitete sie sicher, dass sie sich nicht fürchteten; aber ihre Feinde bedeckte das Meer.

(Psalm 78, 53)


Nach zwölf Tagen träume ich, dass wir unbedingt von hier wegmüssen. Als ich mit Will und Emil darüber spreche, sind wir alle der Meinung, zu versuchen, mit einem Boot über die Elbe zu kommen. Ein Nachbar aus dem Dorf erklärt sich bereit, uns mit seinem Kahn ganz in der Frühe überzusetzen. Die Holländer wollen nicht mit. Sie möchten versuchen, in einer anderen Richtung weiterzukommen. Nachts, um fünf Uhr, schifft uns der Fischer mit seinem Kahn zur anderen Seite.

Wir sind jetzt zu vier Personen. Ein junger Mann, Jupp Dau aus Trier, hat sich uns angeschlossen. Lange laufen wir über Wiesen und Felder bis nach Seegrehna. Will und Emil Kuhr gehen zum Kommissar des Dorfes, um nach einer Unterkunft und nach Verpflegung zu fragen. Jupp und ich bekommen es schon mit der Angst zu tun, weil sie so lange nicht zurückkommen.

Wie groß aber ist unser Erstaunen, als sie mit dem Kommissar lachend und fröhlich Arm in Arm erscheinen. Was war geschehen? Emil wollte den Kommissar bitten, uns doch eine Unterkunft zuzuweisen, als dieser auf einmal aufspringt und Emil in die Arme nimmt. Sie lachen und weinen vor Freude. Da haben sich nach langen Jahren zwei alte Freunde aus Litauen wiedergefunden! Er nimmt uns gleich mit zu sich nach Hause, und wir werden von seiner Frau bedient und verwöhnt. Wir müssen unbedingt noch einige Tage bei ihnen bleiben. In diesen Tagen machen sich die Männer auf den Feldern nützlich und helfen beim Rüben verziehen. Aber nach vier Tagen möchten wir doch weiter.

Wir haben sogar die Möglichkeit, mit einem Personenzug bis Muldenstein zu fahren. Als wir dann in Richtung Mulde laufen, kommt uns eine Frau entgegen. Wir fragen sie wie üblich aus. Wie die Verhältnisse im Ort sind und ob eventuell die Möglichkeit besteht, über die Mulde zu kommen. Sie sieht mich lange an, nimmt mich bei der Hand und geht mit uns, ohne ein Wort zu sagen, zurück in den Ort.

Nun waren wir in Pouch an der Mulde. Wir werden auch von dieser Familie bewirtet, ja, sie macht sogar für mich ihr Schlafzimmer frei und bringt mir heißen Tee und Wärmflaschen. Seit Tagen habe ich entsetzliche Magenkrämpfe und bin ihr unendlich dankbar für ihre Hilfe. Inzwischen beraten sie alle, wie wir über die Mulde gelangen können.



Er half ihnen aber um seines Namens willen, dass er seine Macht bewiese.

(Psalm 106, 8)


Der Bruder unserer Wirtin wohnt in der Nähe des Flusses. Sie binden zwei Autoschläuche zusammen. Jemand muss mit einem Strick zur anderen Flussseite hinüberschwimmen. Wir wollen diesen provisorischen Kahn als Fähre benutzen. Da die Mulde an dieser Stelle sehr reißend ist, wird es sehr schwierig werden, die Schlauchfähre nach drüben zu ziehen. Der Will und Emil wollen hinüberschwimmen, aber ich mit meinen Leibkrämpfen bin dazu außerstande. Als die beiden Männer im Adamskostüm drüben sind, soll ich mich mit ihrer Kleidung auf die Fähre setzen, um mich übersetzen zu lassen. Doch ich protestiere. Zuerst einmal sollten wir die Kleidung hinüberschicken, damit die beiden sich wieder anziehen können. Außerdem ist das auch ein Test dafür, ob die Fähre wie geplant funktioniert.

Die starke Strömung treibt die Fähre immer wieder ab, aber endlich gelingt es doch, die Kleidung an das andere Ufer zu schaffen. Als die Fähre zurückgezogen wird, reißt das Seil und die Enttäuschung ist groß. Wir müssen aufhören, da es mittlerweile dunkel geworden ist und wir nicht mehr genügend Sicht haben. Unsere Wirtin nimmt Jupp und mich wieder zu sich nach Hause. Wir wollen versuchen, am nächsten Tage hinüberzufahren.

Ganz in der Frühe, es war noch dunkel, weckt uns unsere Wirtin. Wir sollen schnell aufstehen und uns beeilen, es hätte sich ein Mädchen bereit erklärt, mit dem russischen Kommandanten zu schlafen, und wir dürften mit dem Kahn hinüber. Im Laufen drückt sie mir eine Wärmflasche in die Hand und eine Thermoskanne mit heißem Tee. Außer Atem erreichen wir den Fluss.

Aber was bietet sich da im dichten Nebel vor unseren Augen für ein Bild! Da stehen nicht etwa zehn oder fünfzig, nein, hunderte von Menschen warten in Viererreihen vor uns. Wir stellen uns in die Reihen und warten mit bangem Herzen, ob und wann wir überhaupt bei dieser Menge von Menschen an die Reihe kommen und übersetzen können. Ein kleiner Kahn mit jeweils zehn Menschen an Bord fährt hin und her, und schon fängt es langsam an zu dämmern. Eine unheimliche Stille herrscht ringsumher. Man hört nur die leisen Schläge der Ruder. Als auch wir endlich im Kahn sitzen, wird es hinter uns unruhig und wir hören laute Stimmen von Soldaten. "Stoj, stoj (Schluss jetzt), nix Amerika - Russland gut!" Für die Zurückbleibenden war das bitter.



Das ist ein köstlich Ding, dem Herrn danken und lobsingen deinem Namen, du Höchster.

(Psalm 92, 2)


Wir sind auf der anderen Flussseite, ja, wir sind in "Amerika"! Wir fallen auf die Knie, alle, ob Deutsche oder Ausländer, und danken Gott. Wir weinen und lachen und sind überglücklich. Nun haben uns auch Will und Emil Kuhr gesehen und kommen angelaufen. Wir fallen uns in die Arme und freuen uns, dass wir wieder zusammen sind.

Jetzt laufen wir auf amerikanischer Seite weiter. Da kommen uns zwei aus der Gefangenschaft entlassene deutsche Soldaten entgegen und fragen uns, wie sie weiter über die Grenze können. Als wir hören, dass sie nach Berlin wollen, geben wir ihnen viele Tips mit auf den Weg. Auf dem Rücken des Soldaten Glück (so ist sein Name!) schreibe ich auf einen Zettel Grüße für meine Mutter: dass wir beide wohlauf sind, leider ohne das Baby, und dass wir auf dem Wege nach Lüdenscheid sind und jetzt in der amerikanisch besetzten Zone sind.

Wir gehen vorbei an Bitterfeld und kommen in Brehna an. Bei einem großen Gut bitten wir um eine Unterkunft; man gibt uns eine Suppe und weist uns die Scheune zu. Früh am Morgen stellt uns der Melker einen ganzen Eimer voll frischer Milch in die Ecke und wir dürfen uns daran laben. Mittags gibt es im Dorf eine wunderbare Erbsensuppe mit ganz viel Speck, köstlich. Bei der Kommandantur der Amerikaner versucht Will eine Genehmigung für die Benutzung eines Zuges zu erhalten. Doch als der Außenposten ihn nach seinem Ausweis fragt, versteht mein Mann kein Englisch mehr und wir machen schnell einen Rückzieher.



Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist. Wohl dem, der auf ihn traut!

(Psalm 34, 9)


Wir ziehen weiter und kommen nach Nienberg. Hier steht tatsächlich ein fahrbereiter Zug. Wir fahren mit diesem über Köthen, Bernburg, Aschersleben, Halberstadt, Wernigerode, Goslar (hier steigt unser Emil Kuhr aus, er ist am Ziel) bis Hildesheim und Behrensen. Hier verlässt uns auch Jupp Dau. Nun müssen wir wieder laufen und lassen uns mit einer Fahre über die Weser setzen. Weiter geht es bis Bösingfeld. Es ist der 10. Juni, ein Sonntag. Wir stehen unschlüssig herum und überlegen, wo wir etwas zu essen bekommen. Da spricht uns eine Frau an und lädt uns zum Mittagessen ein. Ihre Tochter hat einen Besuch abgesagt, und sie bittet uns, mit ihr zu essen. An einem gedeckten Tisch, mit Servietten, und auf dem Tisch eine schöne Decke und das Essen: Drei Gänge!

Wir danken ihr mit Tränen in den Augen und verabschieden uns, denn wir müssen und wollen weiter. Als wir in Blomberg ankommen, hat auch Will Blasen an den Füßen und kann nicht mehr laufen. Bei einem Bauern werden wir recht gut aufgenommen, und man weist uns die Scheune für die Übernachtung zu. Nach einer Weile kommt die Tochter des Hauses und lädt uns zum Abendessen ein. Sie fragen und erzählen, dass auch ihr Sohn als Offizier bei der Wehrmacht diente und sie nun auf seine Heimkehr warten.

Nach dem Essen meinen sie, es wäre die Knechtekammer frei, die an den Stall grenzt, und wir könnten dort schlafen. Unschlüssig sitze ich auf dem Bett und überdenke unsere Lage; neben uns grunzen die Schweine und die Kühe muhen. Da klopft es an der Tür und die Tochter des Hauses bittet uns, doch ihr Fremdenzimmer zu benutzen. Es ist frei, und wir können uns nach langer Zeit wieder einmal in ein richtiges Bett legen. Was haben wir noch lange in unserem Bett gekichert, denn vom Heuschober über die Knechtekammer sind wir in einem komfortablen Fremdenzimmer gelandet!

Nach einem herzlichen Dankeschön geht es am Morgen weiter in Richtung Detmold. In Horn ruft uns ein Stellwerkwärter an und fragt, wo wir denn hin wollen. Als wir ihm zurufen, wir wollen nach Südwestfalen in das Sauerland, sagt er, wir sollen zunächst einmal stehen bleiben. Er will eine Lok für uns anhalten, die uns nach Detmold bringen wird. Erst denken wir, er macht mit uns Spaß, aber tatsächlich, er hält die nächste Lok an und wir können mit ihr bis Detmold fahren.

In Detmold versucht mein Mann, eine Genehmigung zur Benutzung eines Zuges zu erhalten. Als er zurückkommt - leider unverrichteter Dinge

- sehe ich ihm mit stockendem und klopfendem Herzen entgegen. Hier auf dem Bahnhof werden alle Männer auf Pässe kontrolliert, und wer keinen Pass hat, wird mitgenommen. Mein Mann geht an ihnen vorbei, es sind drei Amerikaner und zwei Engländer! Ich muss die Augen zumachen und bete. Sicher war er der einzige ohne Pass, man hat vergessen, ihn anzusprechen. Da kommt ein leerer Kohlenzug an. Wir dürfen schnell aufspringen und können mitfahren. Der Zug fährt über Dortmund in Richtung Aachen.



Du bist der Gott, der Wunder tut; du hast deine Macht bewiesen unter den Völkern.

(Psalm 77, 15)


Es ist Nacht geworden und es regnet. Wir sitzen ohne Schutz in dem schmutzigen Waggon. Wir müssen wohl eingenickt sein, als wir von Flüchen und Schimpfen wach werden. Wir stellen fest, dass wir schon über dem Hauptbahnhof in Dortmund hinaus sind. Schnell springen wir ab. Nun stehen wir in der Dunkelheit auf den Gleisen.

Auf einmal steht ein Engländer mit einer Laterne vor uns und fragt, wo wir hin wollen. Er zeigt uns die Richtung zum Hauptbahnhof, sagt aber auch, es ist Sperrzeit, die Kontrollen sind streng und die Posten schießen sofort. Wir sind erschrocken und wissen zunächst nicht, was wir nun tun sollen. Wir gehen in Richtung Hauptbahnhof.

Plötzlich hören wir ein Motorengeräusch. Eine Draisine kommt von hinten heran und leuchtet mit zwei Scheinwerfer die Gleise ab. Wir werfen uns auf die Erde zwischen den Schienen. Nur keine Bewegung. Ich bete:

"Lieber Gott, nun sind wir bald zu Hause und sollen hier erschossen werden? Das kann doch nicht wahr sein. Hilf uns in unserer Not!" Als die Draisine auf unserer Höhe ist, fängt die Besatzung wie verrückt an zu schießen - ich warte auf den Tod.

Aber es galt nicht uns. Sie fahren weiter, und als es wieder ruhig ist, springen wir schnell auf und rennen auf ein Stellwerk zu, das wir schemenhaft ausmachen können. Dort hebt Will eine Tür aus den Angeln, und wir schlafen auf ihr bis zum Morgen. Als die Sperrzeit vorbei ist, gehen wir zum Hauptbahnhof. Und tatsächlich, in Kürze fährt ein Zug nach Lüdenscheid.

Als wir im Zug sind, können wir das Wunder kaum fassen. Eine Mitfahrerin aus Wuppertal schaut mich mitleidig an, sieht meine nackten Füße und schenkt mir ein Paar Strümpfe. Nach all den Strapazen kommen wir endlich am 12. Juni 1945 in Lüdenscheid an.

Auf der Südstraße kommt uns eine Tante entgegen. Sie erkennt uns nicht und geht vorbei. Da rufe ich sie an und sage: "Tante Hilde, erkennst du uns nicht?" Da bleibt sie ganz entsetzt stehen, denn die Folgen der Fahrt mit dem Kohlenzug hatten wir nicht vollständig beseitigen können. Sie sieht uns nun aufmerksam an und jetzt erkennt sie uns. Die Freude ist groß. Wir gehen weiter und betreten das Elternhaus meines Mannes. Auch hier löst unser Kommen große Freude aus. Aber man hatte uns erwartet. Wir staunen. Die Lösung des Rätsels: einen Tag vorher hatte Jupp Dau vorgesprochen und erzählt, dass wir auf dem Heimweg seien.

Nun ist es soweit. Wir sind zu Hause.



Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen! Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat!

(Psaim 103, 1 und 2)


Am Morgen des 6.12.2008 starb unsere geliebte Mama. Nun endlich ist sie wahrhaftig zu Hause.